Notre Dame brennt und ich kann nicht aufhören zu weinen. Zu sehr erschüttert mich dieses Bild. Wie viele Jahrhunderte von Ideenreichtum, Schöpferkraft und Glaube an das Gelingen gehen dort gerade in Flammen auf. Unvorstellbar für unsere heutige schnelllebige Zeit ein Bauwerk zu beginnen, von dem man weiß, dass selbst die Urenkel es nicht in seiner ganzen Pracht werden bestaunen können. Oder kennt jemand eins, vom Berliner Flughafen mal abgesehen, lasst es mich wissen. Es täte gut zu hören, dass es auch heute noch Menschen mit großen Visionen gibt und Geldgeber, die bereit sind, ihr Vermögen in eine bloße Idee zu investieren, die Millionen von Menschen in ihrem tiefsten Inneren berührt und eine Verbindung zwischen Ihnen herstellt, die durch keine Demagogie der Welt zerstört werden kann.
09.11.2018
11 Uhr. Ich will nur mal kurz Nachrichten auf n-tv sehen. Die Journalistin im Studio unterhält sich aus gegebenen Anlass mit einem jüdischen Gastronom. „Sind Sie denn Anfeindungen ausgesetzt?“, möchte sie wissen. Die Antwort des Gastronom ist erschreckend, da er, auch für mich in dieser Dimension unerwartet, permanenter Bedrohung und Beschimpfung ausgesetzt ist. Trotzdem betont er, dass es viel mehr Menschen gibt, die zu ihm stehen, als solche, die ihn hassen.
Das hatte sich gezeigt, als Freunde von ihm ein Video online gestellt hatten, auf dem zu sehen war, wie er einen körperlichen Angriff in seinem Restaurant überstehen muss.
Tausende hatten darauf hin Solidarität mit ihm bekundet.
Am Ende des Gespräches wünscht die Frau im Studio doch tatsächlich zukünftig weniger Anfeindungen.
Tut mir Leid, aber wenn ich dort Chefredakteur wäre, dieser Person würde ich fristlos kündigen.
800 Stunden, sagt der Reporter, muss man laufen, um 4000 km zu überwinden.
Wohl bemerkt 800 Stunden reine Laufzeit oder anders ausgedrückt 33 Tage nonstop ohne Essen, Schlaf etc. In Wahrheit ist es mindestens die doppelte oder dreifache Zeit.
Vielleicht hat man Glück und wird ein Stück von einem Fahrzeug mit genommen.
Trotzdem, so eine Quälerei um an eine Grenze zu kommen, die scharf bewacht ist, um in ein Land zu gehen, in dem man nicht willkommen ist und in dem man voraussichtlich nur illegal, ohne jedes Recht, immer in Angst entdeckt zu werden, leben kann.
Wie groß muss die Verzweiflung der Menschen sein, dass ihnen all das besser erscheint als der Ort von dem sie kommen.
Mein Herz blutet angesichts solcher Nachrichten und ich fühle mich so ohnmächtig.
„Leeloo“, sagt meine Tochter vor ein paar Tagen, „ich muss etwas mit dir besprechen. Ich möchte gern immer als Regisseurin arbeiten, nicht mehr ins Büro gehen. Das würde aber bedeuten, dass ich sehr viel weniger Geld habe. Wir können dann nicht mehr so oft Eis essen gehen.“
Darauf Leeloo: „Mama, wir haben so ein Glück, wir müssen Theater machen. Mama, dann bist du der Chef und kannst allen anderen sagen, was du machen willst.“
Dem ist nicht viel hin zu zufügen, außer vielleicht die Sache mit dem Chef. Sagen kann der schon, was er gern machen will. Ob die anderen sich so einfach daran halten…? Da ist Theater nicht anders als das reale Leben, nur das hier alle Fassetten auf engstem Raum aufeinander prallen. Wenn man aber das als Glück empfindet, gibt es sicher keinen besseren Ort auf der Welt.
Leeloo und ich sind auf dem Weg in den Kindergarten und plaudern entspannt über Gott und die Welt.
Plötzlich ein markerschütternder Schrei vom Rücksitz. „Oma“, ruft Leeloo so tränen erfüllt, dass ich sie kaum verstehen kann, „wir müssen zurück fahren, wir haben die Pfefferminzblüte bei Mama vergessen.“
„Was denn für eine Pfefferminzblüte“, will ich wissen.
„Na,die Blüte, die so schön aussieht und nach Pfefferminz riecht, ich will sie im Kindergarten zeigen.“
Ich bin einigermaßen erschrocken über den Ausbruch von Verzweiflung hinter mir. Außerdem schwant mir etwas ganz schlimmes.
„ Es lohnt jetzt nicht zurück zu fahren, Leeloo, Mama ist ja schon auf der Arbeit“, versuche ich die Sache etwas zu beruhigen. „Wenn wir am Kindergarten sind, rufen wir die Mama an und fragen, wo die Blüte ist.“
„Die war im Auto und Mama wollte sie mit in die Wohnung nehmen und ins Wasser stellen.“
Oh, all meine schlimmsten Befürchtungen scheinen sich zu bewahrheiten, denn als ich gestern im Auto das Papier und sonstigen Müll zusammen räumte, war da auch ein kleiner Blütenkopf gewesen. Ich hatte kurz überlegt, ihn aufzuheben, mich dann aber entschlossen, ihn doch mit zu entsorgen. Jetzt lag diese Blüte nicht nur bei mir im Müllsack, sondern bereits in der Mülltonne.
„Wenn die Blüte im Auto war, habe ich sie vielleicht aus versehen mit weg geworfen“, versuche ich Leeloo vorsichtig zu erklären.
Ganz, ganz schlechte Idee. Leeloos Schreien geht in geradezu grenzenlose Verzweiflung mit Schnapp Atmung über und ich fürchte, ihr kleines Herz bleibt gleich stehen. Deshalb versichere ich ihr, dass die Blüte doch viel eher bei ihrer Mama ist und sie ihr das ja auch gleich bestätigen wird.
Am Kindergarten angekommen, wählte ich die Nummer meiner Tochter und eh diese etwas fragen kann, bitte ich sie, Leeloo zu bestätigen, dass die „Pfefferminzblüte“ zu Hause im Wasser steht und sicher noch da ist, wenn Leeloo in fünf Tagen wieder zu ihr kommt. Ab heute ist Leeloo erst mal wieder bei ihrem Papa.
Die Worte ihrer Mutter wirkten jetzt endlich beruhigend und ich kann ein einigermaßen tränen freies Kind in den Kindergarten bringen.
Danach fahre ich als erstes zu einem Blumengeschäft, um zu erfragen, ob es Blumen gibt, die so ähnlich wie Nelken aussehen, aber eher nach Pfefferminz riechen. Die Verkäuferin sieht mich an, als wäre ich der Sendung „Verstehen Sie Spaß“ entsprungen.
Gut, dann bleibt nur noch eine Möglichkeit, die Sache wieder ins Lot zu bekommen.
Zu Hause angekommen, ist mein erster Weg der zur Mülltonne. Gott sei Dank sind in der Zwischenzeit keine weiteren Müllsäcke eingeworfen worden und meiner liegt auch so, dass ich ihn ohne größere Akrobatik erreichen kann.
Das erste mal in meinem Leben nehme ich den Müll wieder mit ins Haus und habe Glück. Ich finde etwas, dass noch aussieht wie eine Blüte und vielleicht kann mir ja ein Gärtner sagen, um welchen Blütenkopf es sich dabei handelt und ich kann am Wochenende eine Blume mit diesem Blütenkopf für Leeloo kaufen, eine die aussieht, wie eine Nelke und wenn man fest daran glaubt nach Pfefferminz riecht.
Ich gebe zu, es ist verrückt. Ich gebe zu, man merkt, dass ich nicht mehr arbeiten gehe. Aber solang der Verlust einer einzelnen kleinen Blüte die Welt eines Kindes noch derart erschüttern kann, besteht Hoffnung für diese Erde. Das möchte ich um nichts in der Welt aufs Spiel setzen.
Am 19.12. 2015 verstarb der Dirigent Kurt Masur und obwohl ich damals schon wusste, dass er sehr krank gewesen war, hatte sich mein Herz bei dieser Nachricht zusammengekrampft. Kein Mensch hat meine Liebe zur Musik, mein Denken und Fühlen, mein Verständnis von dieser Welt in meiner Kindheit und Jugend so geprägt wie er.
Masur verkörperte in einer Person alle guten Eigenschaften meiner Eltern. Die Beharrlichkeit, das Durchhaltevermögen, das Streben nach dem Bestmöglichen meiner schlesischen Mutter; die allumfassende Liebe zur Musik, , die Feinfühligkeit im Umgang mit anderen Menschen, das humanistische Weltbild meines sächsischen Vaters.
Das alles ist mir erst in späteren Jahren bewusst geworden, ist aber wahrscheinlich ein Grund weshalb ich mich ihm so verbunden fühlte.
Ende der 60 iger, Anfang der 70 iger Jahre empfand ich es nur als unendliches Glück, Mitglied des Philharmonischen Chores Dresden zu sein und damit Teil von etwas für mich ganz Großem.
Nie werde ich die Anspannung vor den Auftritten, die geradezu körperliche Fokussierung auf den Dirigenten verbunden mit einem Ausblenden aller anderen Gedanken, das Eintauchen in die Musik, vergessen.
Masur verstand es eine unvergleichliche Harmonie zwischen dem Orchester und dem Chor herzustellen. Das gelang ihm, weil er nicht einfach forderte, er erklärte, uns Kindern zum Beispiel die Worte von Schillers „Ode an die Freude“.
Das Publikum lauschte bei jedem Konzert voller Ergriffenheit. War der letzte Ton verklungen herrschte absolute Stille im Saal, dann brach der Jubel los.
Von allen Werken, die wir aufführten, war die 9. Sinfonie von Beethoven das Werk, dass mich am meisten in seinen Bann zog. Masurs Interpretation ist für mich bis heute unübertroffen.
An jedem Heiligabend ist das hören der Neunten mehr als ein weihnachtliches Ritual. Für mich gibt keinen besseren Termin, um wieder in diese Musik einzutauchen und sich Kraft für das neue Jahr zu holen.
Und ich hoffe, dass auch Leeloo eines Tages, so wie meine Tochter mit sieben Jahren, zu ihrer Freundin, die uns am Vormittag des 24. Dezember besuchte und erstaunt war, über die gewaltige Musikfülle, die unsere Wohnung durchflutete, die bedeutungsvollen Worte sprechen wird: „Das ist Mamas oder besser Omas Weihnachtsmusik“.
Gestern hat mir meine Tochter die Biografie Kurt Masurs mit gebracht und mich damit an meine so glückliche Kindheit erinnert.
Was für ein wunderbares Geschenk.
Heute soll es warm werden, sehr warm. Aber jetzt am Morgen ist es noch empfindlich kühl, vielleicht 13 Grad. Als ich mit Leeloo den Weg zum Kindergarten hinunter laufe, kommt uns eine junge Frau entgegen. Sie ist der Witterung entsprechend gekleidet. Mit der rechten Hand schiebt sie einen Kinderwagen, mit der linken telefoniert sie mit ihrem Smartphone. Im Kinderwagen sitzt ein vielleicht 2-3 jähriges Mädchen, bekleidet mit einer Strumpfhose, einem Röckchen und einem kurz ärmlichen dünnen Blüschen. Die Fingernägel des Kindes sind rot lackiert.
Ich will diesen Umstand nicht kommentieren, aber mir ist dabei eingefallen, dass Frankreich ab 2019 die Schulpflicht für Dreijährige einführt. Das machen die Franzosen sicher nicht aus Jux und Dollarei oder weil der Staat nicht weiß, was er mit seinen vielen Steuereinnahmen sonst noch anfangen könnte.
Deutschland sollte diesem Beispiel folgen und statt dem Recht auf einen Kindergartenplatz für Dreijährige eine Kindergarten-Pflicht einführen. Also in NRW würde das vielen Kindern den Start in den Schulalltag erleichtern, auch wenn von gleichen Voraussetzungen deswegen noch lange nicht die Rede wäre. Wie heißt es so schön - ein erster Schritt, oder besser ein kleiner Stolperer in die richtige Richtung.
„Schade, dass die Müllmänner alle Blätter auf kehren“, sagt Leeloo auf den Weg in die Kita. „Ich wollte mir auch welche aussuchen!“ „Mach dir keine Sorgen“, antworte ich, „die Bäume werfen noch viele Blätter ab, der Herbst fängt gerade erst an.
Wenn ich dich nachher abhole, kannst du dir schöne Blätter im Garten suchen.
Ist doch gut, dass der ganze Müll immer weggeräumt wird. Stell dir vor, wie schmutzig es sonst wäre.“
„Manchmal lassen sie etwas liegen“, gibt Leeloo Paroli. Sie ist sauer, weil sie eigentlich nicht in den Kindergarten möchte.
„Gestern habe ich einen Film gesehen über ein Land, in dem es keine Müllmänner gibt und der ganze Schmutz auf der Straße liegt“, versuche ich sie auf andere Gedanken zu bringen.
„Wieso gibt es da keine Müllmänner“, will Leeloo natürlich sofort wissen.
„Weil die Chefs in diesem Land das ganze Geld für sich behalten und keine Müllmänner bezahlen wollen. Sie selber wohnen ja in schönen Häusern, die sauber sind. Aber die vielen anderen Menschen leben in kleinen Hütten ohne Licht und Wasser oder Toiletten und dem ganzen Dreck auf der Straße. Davon wird man krank, weißt du.
Pause
„Oma“, sagt Leeloo nach einer Weile, „Papa hat gesagt, wenn ich groß bin, fahren wir in der Nacht heimlich mit dem Auto in ein Land, wo es den Menschen ganz schlecht geht, wo auch Krieg ist, und holen sie zu uns. Dann geht es Ihnen auch gut.“
Meine Zweifel daran, dass ihr Papa das gesagt hat, sind berechtigter Weise riesig.
Aber das große Herz in dieser kleinen Brust, dass sie sich überhaupt darüber Gedanken macht, rührt mich wieder mal zutiefst.
In der Kita angekommen, sind alle, ich mag heute nicht in den Kindergarten Gedanken vergessen. Und als ich sie nachmittags abhole, bekomme ich den Vorwurf zu hören: „Oma , warum kommst du schon? Ich wollte noch ein Spiel spielen, ich gewinne immer.“
„Na dann“, ich setze mich in einen großen Sessel im Eingangsbereich, „dann spiel noch ein Spiel, ich warte hier auf dich.“
In diesem Moment wird mir wieder mal bewusst, welches Privileg es ist, über freie Zeiteinteilung zu verfügen und Druck und Stress aus dem Alltag heraus halten zu können.
Der Kopf ist zu voll. Die Gedanken springen hin und her, alles erscheint wichtig und bedeutend genug, darüber Worte zu verlieren.
Aber sich äußern, allein, reicht gerade nicht mehr aus. Um alles zu verarbeiten, fehlen die ein Leben lang vorhandenen täglichen Gesprächspartner.
Mein Laptop ist ein guter Freund. Er hört zu und gibt Antworten auf viele Fragen. Aber er sagt nicht: Hey, hast du das und das gesehen oder gehört? Was meinst du dazu? Ich glaube, ihn interessiert nicht wirklich was ich gerade denke :))
Da ist es gut, dass Leeloo jetzt wieder ihren Platz auf dem alten Sofa eingenommen hat.
Sie bringt Leben in die Bude und fordert volle Aufmerksamkeit.
Schließlich ist das Sofa nicht nur zum Kuscheln und Schlafen gut geeignet. Hier pulsiert das pralle Leben. Hier werden Ritterkämpfe ausgetragen, Höhlen gebaut, Pudding gegessen, gebastelt, gemalt, Fernsehen geguckt, vorgelesen und natürlich Gespräche von existentieller Bedeutung geführt. Zum Beispiel über den Igel, der sich im Garten vom Opa eingenistet hat und dringend einen Namen braucht… Oh, es tut so gut, sie wieder bei mir zu haben.
Der Igel soll Mark-Rafael heißen. Ob Mark mit k oder c und Rafael mit f oder ph muss noch geklärt werden.
21:44 Uhr SMS von meiner Tochter: "Leeloo ist da!!"
Ich werde gut schlafen.
Seit zehn Tagen ist Leeloo mit ihrem Papa in Schweden. „Vermisst du mich?“, hatte meine Tochter vor einer Woche am Telefon gefragt. „Noch nicht, Mama, aber bald“ war Leeloos Antwort gewesen.
Zwei Wochen können so lang sein und ich zähle die Stunden. Gleichzeitig bin ich froh, dass Leeloo diese heißen Tage am Wasser verbringen kann.
Gasteintrag
Heute ist ein Tag für Wut. Wütend sein hat für mich immer etwas fast niedliches gehabt. Wütend beschreibt man oft tobende Kinder die mit roten Bäckchen sich über meist irrationale Dinge wie „zu wenig“ Süßigkeiten oder den zu-Bett-geh-Zeiten echauffieren.
Aber Wut bei Erwachsenen wird schon fast mit Schwäche gleich gesetzt, man solle sich doch nicht so aufregen.
Aber ich rege mich auf. Und heute ganz besonders!
Meine Wut, die ich empfinde, ist nicht irrational. Sie ist ziemlich echt und tut auch ganz schön weh.
Unsere Gesellschaft hat einige Systeme entwickelt die es einem, wenn man nicht zu den oberen Zehntausend gehört ,verdammt schwer macht in ihnen ein würdiges Leben zu führen.
Und wenn Du dann in diesem System den Fehler begehst, einmal ins rote Auge Saurons zu geraten (und das auch nur weil Du es gut gemeint hast) dann -gnade Dir Gott. Oder Allah. Ganz egal, aber du solltest beten. Beten das eine Erbschaft auf dich wartet oder der Bausparvertrag kein Werbetrick war und dir ganz sicher irgendwann ausgezahlt wird. Oder das du nach dem 5. Gin Tonic auf dem Junggesellenabschied deiner Cousine den einen wahren Unternehmensberater findest dessen Onkel zufällig als Anwalt niedergelassen ist. Übertrieben? Leider nicht. Denn der kleine Mann bzw. die kleine Frau hat es verdammt schwer.
Das war schon immer so? Das macht es nicht besser, sondern trauriger.
Meine Mutter ist eine Frau, die trotz aller Herausforderungen ( übrigens sind Herausforderungen hier ein lieb umschriebenes Wort für Katastrophen) die ihr das Leben bislang so vor die Füße geworfen hat ein ehrlicher, guter Mensch geblieben. Und ja, das meine ich ernst.
Wie ihr das gelungen ist? Ich habe nicht die leiseste Ahnung.
Sie ist eine Idealistin. Eine Kämpferin für ihre Lieben. Jemand, der stets darauf bedacht ist seine Mitmenschen fair zu behandeln, egal wie schwierig, kompliziert oder umständlicher es damit für sie selbst wird. Sie ist eine Frau, die zu ihrem Wort steht. Jemand der sich immer zwei Seiten einer Geschichte anhört und die Welt nicht in schwarz und weiß unterteilt.
So ein Verhalten braucht Größe. Nein, so ein Leben!
Heute, am Tag meiner Wut, musste ich miterleben wie diese tapfere Frau für einen Moment das Visier runter nahm und nicht mehr konnte. Ein Moment des ver -zweifeln an dieser Welt. Es bricht mir das Herz, das sie nach so vielen Jahren immer wieder das Schwert rausholen muss, um das letzte bisschen guten Glauben, den sie nach all den schweren Jahren noch in sich trägt, zu verteidigen.
Apropos Welt. „Du musst ein Schwein sein in dieser Welt“, hat mal jemand gesagt.
Auch heute. Mit Wut. Nein, das musst Du nicht! Das habe ich gelernt.
Und sie stand wieder auf.
Ich liebe Dich Mama, deine Tochter.
Hatte mir ja gestern in großen Teilen die Zauberflöte, Aufführung aus Salzburg, angesehen und kann nur sagen: Da hat eine Regisseurin mal wieder versucht, alles in ein Stück hinein zu interpretieren, was sie der Welt als Botschaft übermitteln möchte und damit das Stück kaputt inszeniert. Eine Zeitung hat geschrieben: Sie versetzte das Publikum im Saal in große Ratlosigkeit.
Mich versetzt das eher in Wut. Die Zauberflöte ist musikalisch so schön, ihre Aussagen so humanistisch, ihre Helden so menschlich verständlich und sie schafft das, es zu ruinieren. da ist man einfach nur fassungslos.
Dabei war ihre Ausgangsidee, nämlich das Werk in eine Rahmenhandlung zu packen (großbürgerliche eiskalte Familie, in der nur der Großvater voll Liebe für die Kinder ist und ihnen deshalb als gute Nacht Geschichte die Zauberflöte vorliest) eigentlich gut. Und auch die Idee, dass die Kinder die Figuren des Märchens in ihre Angehörigen und Bediensteten interpretieren, fand ich keine schlechte Idee. Aber dabei hätte sie es belassen sollen.
Aber nein, da muss ja noch der erste Weltkrieg oder ein Zirkus als heile Welt Ersatz (ha,ha) in dieses Märchen gepackt werden.
Nur gut, dass Leeloo schon weiß, dass Rotkäppchen von einem Wolf verschluckt und dem Jäger gerettet wurde und nicht von einem Neonazi wegen ihrer roten Kappe gefangen und gefoltert und von Partisanen befreit.
Weshalb suchen sich solche Regisseure, in diesem Fall eine Frau Steier, nicht einfach moderne Geschichten, in denen sie all die gegenwärtigen Elendszustände in unserer Welt auf die Bühne bringen können und lassen die Klassiker das sein, was sie sind, nämlich Klassiker. Das deren Aussagen noch Gültigkeit und Bedeutung für unsere Zeit haben, ist unbestritten und man darf dem Publikum zutrauen, dass ganz allein herauszufinden.
Was tun, wenn das Leben zunehmend in zwei Teile zerfällt. In den Teil über dem steht – Du musst – und der dich in eine ungeliebte Arbeit und familiäre Verpflichtungen zwingt, die du ja gern erfüllen möchtest, es aber einfach nicht mehr kannst und in den Teil in dem du sein darfst, wie du bist und leben, wie du eigentlich gern leben würdest?
Na und, wird der ein oder andere sagen. Wo ist das Problem. Leben ist halt so. Je schneller du dich damit abfindest, um so leichter wird es.
Dem möchte ich widersprechen, denn bei dem Bruch, den ich hier beschreibe, geht es tatsächlich
um sein oder nicht sein, um Leben oder Tod.
Ich habe dieses Gefühl des langsamen Erstickens in einer Umgebung, die mir immer wieder deutlich machte, wie gut es mir doch geht, während sich in meiner Brust ein beständig größer werdender Kloß bildete, selbst erlebt.
Meine Rettung war vor vielen Jahren der radikale Schnitt, der Sprung in ein neues Leben, weit genug weg von der alltäglichen, unmittelbaren Fürsorge und Anteilnahme an meinem Dasein.
War mein Leben jetzt leichter geworden? Im Gegenteil!
War ich jetzt glücklicher, so wie meine Tochter mich fragte, als ich sie damals vom Flughafen abholte: „Mama, bist du hier immer so glücklich?“ Nein, ich war sogar sehr oft sehr unglücklich.
Aber das sind nicht die richtigen Fragen. Die einzig wichtige Frage lautet: Hast du es jemals bereut?
Und bis zum heutigen Tag kann ich sagen, dass ich es noch nie, nicht den Bruchteil einer Sekunde bereut habe. Es war die beste Entscheidung meines Lebens!
Menschen sind sehr unterschiedlich. Während der eine, ohne seine Familie, sein Dorf, seine Stadt einfach nicht existieren kann, braucht der andere die Freiheit, die Pluspunkte und Fehler in seinem Leben selbst zu bestimmen, einfach weil sie dann eine andere Wertigkeit haben. Natürlich hat man so nicht die Möglichkeit, Fehlentscheidungen anderen wenigstens teilweise mit in die Schuhe zu schieben, aber die Pluspunkte darf man ohne jede Scheu für sich verbuchen. Und das ist Glück pur.
Wir haben uns vorbereitet. Auf dem Tisch steht Kartoffelsalat mit Würstchen, Knabberzeug und Getränke. Leeloo hat im Kindergarten kleine Fähnchen gebastelt. Deutschland, Frankreich, Russland und Marokko sind im Angebot.
Das Spiel beginnt, Leeloo ist erstaunlich aufmerksam dabei, will alles erklärt haben.
Blöd nur, dass Deutschland es nicht schafft, dieses eine Tor zu schießen.
Leeloo ist zunehmend untröstlich. Da hilft auch nicht, dass Schweden inzwischen mit 3 Toren führt, immerhin ihre zweitliebste Fußballmannschaft, und ihr Papa, der Leeloo und mich bei diesem schweren Spiel moralisch unterstützt, mit Leeloo noch ein schwedisches Fähnchen zeichnet.
Leeloo will Deutschland siegen sehen. Wer nicht?
In ihrem Kummer stopft sie ein smartie nach dem anderen in den Mund.
„Nimm dir noch zwei und die anderen hebst du dir für morgen auf, Leeloo“, sage ich vorsorglich, „sonst bekommst du noch Bauchschmerzen.“
„Ach Oma“, sagt Leeloo zutiefst von der Enttäuschung gebeutelt, „smarties sind für mich Medizin“!
Na ja, vielleicht hätte man unserer Fußballnationalmannschaft vorab ein paar von diesen Wunder wirkenden bunten Schokolinsen geben sollen, dann hätte es vielleicht auch mit dem Tor geklappt.
Leeloos Papa hat versprochen, trotz Niederlage ein bisschen auf dem Heimweg mit dem Auto zu hupen. Schließlich fahren Leeloo und er bald nach Schweden in den Urlaub. Ein Grund sich über den schwedischen Sieg mit zu freuen.
Auf der Fahrt zum Kindergarten.
„Oma, wer hat gewonnen?“ „Mexiko“, antworte ich. „Ich wollte das Deutschland gewinnt“, sagt Leeloo. „Ja, das wollten wir alle, aber es kommen ja noch mehr Spiele“, versuche ich Leeloo zu trösten. „Das nächste ist am Samstag.“
„Gegen wen spielt Deutschland dann“, will Leeloo wissen. „Gegen Schweden“.
Kurze Pause
„Dann will ich das Schweden gewinnt, Oma“, und auf meinen erstaunten Blick im Rückspiegel, „Papa und ich fahren bald nach Schweden.“ Ich nicke verstehend.
Wieder kurze Pause
„Ich möchte das Deutschland und Schweden gewinnt, geht das Oma?“
„Na ja, es gibt ja auch unentschieden, also wenn beide ein Tor schießen“, antworte ich.
„Dann will ich unentschieden, Oma“.
Da soll doch noch mal einer sagen, dass man sich mit kleinen Kinder nicht ernsthaft über die, für das Leben wesentlichen, Dinge unterhalten kann.
„Omi“, sagt Leeloo und kuschelt sich an mich, „du bist die beste Oma der Welt. Wir bleiben immer zusammen, ja?“
Ach, Leeloo, meine Prinzessin. Es ist so leicht die beste Oma zu sein, wenn man so eine liebe, intelligente, sich über die kleinste, die allerkleinste Kleinigkeit freuende Enkeltochter hat.
„So lange ich kann, bleibe ich bei dir.“
„Und wenn du tot bist?“, fragt Leeloo.
„Dann bin ich immer bei dir, wenn du an mich denkst. Aber wir sind ja noch ganz lange zusammen. Ich will doch sehen, wie du in die Schule kommst.“
„Und Astronautin werde“, ruft Leeloo dazwischen, „Oma wir fliegen zusammen ins Weltall.“
Mein Blick ist wohl etwas skeptisch und veranlasst sie zu der Frage: „ Du willst doch auch die Planeten sehen?“, und mit Nachdruck, „alle wollen die Planeten sehen, Papa und Mama auch.“
Was soll man darauf antworten? „Natürlich will ich die Planeten sehen“, sage ich und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. „Wollen wir vorher noch Pudding mit Erdbeeren essen?“
„Du hast Pudding gekocht?“ Leeloo strahlt, springt auf und läuft in die Küche.
Ich bin die beste Oma der Welt, ich weiß…:):):)
Leeloo und ich sitzen auf der Bank vorm Haus und spielen Schnick, Schnack, Schnuck, zwischen uns eine Schale mit Erdbeeren, wer gewinnt, darf sich eine Erdbeere heraus nehmen. Schnick, Schnack, Schnuck – ich zeige Brunnen, Leeloo Schere.
„Schere fällt in den Brunnen“ sage ich. „Oma das ist keine Schere“ antwortet Leeloo und verzieht dabei keine Miene, „das ist ein Vogel und der setzt sich auf den Rand vom Brunnen, ich habe gewonnen.“ Und während ich sie noch verblüfft ansehe, nimmt sie sich eine Erdbeere und steckt sie in den Mund. Unter diesen Bedingungen ist es nicht ganz so einfach Schnick, Schnack, Schnuck zu spielen, aber definitiv sehr amüsant. Ab und zu gelingt es mir trotzdem, sie aus zu tricksen.
Später sehen wir uns im Fernsehen an, wie Alexander Gerst in der Raumstation ankommt. Ich weiß nicht, ob sie wirklich versteht, dass diese Männer und Frauen nicht mehr auf der Erde sind, aber die Schwerelosigkeit beeindruckt sie stark. „Warum können die fliegen?“, will sie erstaunt wissen.
Gut, dass es die Sendung mit der Maus gibt!!! In der Mediathek finde ich den richtigen Beitrag, der Schwerelosigkeit erklärt.
Da im Garten ihres Opas ein Trampolin steht, weiß sie ein bisschen, wie es sich anfühlt „zu fliegen“. Und ich erinnere mich daran, dass ich als Kind so hoch, wie möglich vom Sofa gesprungen bin, später von der Schaukel, um „zu fliegen“.
Und wieder ein Angriff auf mein Kind. Diesmal nicht nur verbal, sondern auch tätlich, verbunden mit einer Morddrohung.
Ort: Die Warteschlange an der Kasse eines Supermarktes.
Geschehen: Es ist Mittagszeit. Ein paar Jugendliche, vermutlich Schüler der dortigen Berufsschule, wollen sich fürs Mittagessen mit „Flüssignahrung“ eindecken. Meine Tochter steht in der Schlange hinter ihnen. Als die Jugendlichen an der Kasse sind, geht diese defekt. Die Kassiererin, eine ältere Frau, die seit 26 Jahren an der Kasse sitzt, sich also bestens auskennt, versucht schnellstmöglich den Schaden zu beheben. Das hindert die Jugendlichen nicht, diese Frau, die ihre Mutter sein könnte, aufs Übelste anzugehen und zu beschimpfen. Meine Tochter, der die Kassiererin leid tut, sagt also sinngemäß zu den Jugendlichen: „Komm, halt mal den Ball flach. Du siehst doch, sie tut, was sie kann.“ Darauf rastet einer der Jugendlichen völlig aus, schlägt auf sie ein, schuppst sie so sehr, dass sie gegen einen der Pfeiler des Supermarktes fällt und schreit: „Wenn ich dich noch einmal treffe, bring ich dich um.“ Daraufhin zerren die anderen den Rasenden aus dem Markt.
Und deja vu. Keiner der anderen Kunden sagt etwas, keiner hilft, weder der Kassiererin, noch meiner Tochter.
Was ist das? Sehnsucht nach der Diktatur? Chaoten so lange gewähren lassen, dass man sich bei der nächsten Wahl ruhigen Gewissens für noch weiter rechts entscheiden kann, weil die Demokraten es ja offensichtlich nicht hin bekommen für Recht und Ordnung zu sorgen?
Vielleicht ist es ja an der Zeit, eine große öffentliche Debatte darüber zu beginnen, was Demokratie bedeutet. Offensichtlich glauben große Teile der Bevölkerung, das es sich hierbei um ein Geschenk des Himmels handelt, welches man einfach so in Anspruch nehmen kann, sich aber nicht weiter darum kümmern muss. Also der liebe Gott wird`s nicht richten. Das werden wir schon selbst tun müssen. Oder?
„Kasperle“, ruft Leeloo, „schlag ein. Alle für einen,“ „einer für alle!“,ruft Kasperle zurück und schlägt ein. Leeloo liebt diesen Spruch, auch wenn sie ihn nicht aus dem Mund von d`Artagnan gehört hat, sondern dem einer Elfe aus einem Comic. Und so müssen noch der Zauberer und der Räuber Hotzenplotz ihr die Freundschaft versichern.
Leeloo wächst in einer Großfamilie auf. Sie lernt quasi von der Pike auf, was es heißt, füreinander da zu sein, zu helfen, wenn der andere Hilfe braucht. Aber das ist eben Familie.
Außerhalb dieses, und das wünsche ich von ganzem Herzen jedem Kind, hoffentlich geschützten Bereiches, ist das mit der Freundschaft schon schwieriger.
Leeloos Kindergartenfreundin, zum Beispiel, sieht das locker. Mal ist sie mit Leeloo befreundet, dann spielt sie wieder den ganzen Tag nicht mit ihr. Leeloo erträgt das, aber ich spüre, dass sie so ein Verhalten nicht verstehen kann.
Als ich fünf Jahre alt war, übernahmen meine Eltern eine kleine Landschule, in der Kinder von der ersten bis vierten Klasse unterrichtet wurden. Ich war also von vielen Kindern umgeben, aber ich hatte genau eine Freundin. Bis heute weiß ich ihren vollständigen Namen, wie sie ausgesehen hat, wo sie wohnte, welche Spiele wir spielten und wie schmerzlich vier Jahre später die Trennung war.
Kinderfreundschaften, die so aus dem Herzen kommen, sind einfach etwas wunderbares und das Wissen, dass es außerhalb der familiären Gemeinschaft Menschen gibt, die dich verstehen und unterstützen, macht stark.
„Bist du mein Freund Oma?“ Leeloo hat es sich auf dem Sofa bequem gemacht. „Ja, ich bin dein Freund.“ „Auch wenn ich dich so ein bisschen mit den Zehen schubse?“ „Hmmm“, knurre ich. „Und wenn ich dich trete?“ Ihre kleinen Füße trommeln gegen meinen Oberscherschenkel.
Da springt Kasperle aus seiner Kiste. „Wo ist der Fußdrachen, der die Oma tritt? Leeloo winkt mit dem Fuß hin und her. „Na warte“, ruft Kasperle und springt auf den Fuß, wie auf ein wildes Pferd, klammert sich fest und lässt sich nicht abschütteln. Und Leeloo lacht, schallend, und lacht und lacht…
„Am besten war Flappi“, sagt Leeloo. Flappi, die kleine Fledermaus, die den Sternenhimmel sehen will, so wie der Mensch ihn sieht und sich deshalb zum Schlafen nicht mit den Füßen festhält, sondern mit den Flügeln. Wie sich jedoch herausstellt, ist das Sternbild „Fledermaus“ nur erkennbar, wenn man kopfüber von der Decke hängt. Denn so ist das im Leben. Wenn zwei das selbe sehen, heißt das noch lange nicht, dass sie das selbe darin erkennen.
„Und“, will ich wissen, „weißt du noch ein Sternbild“? „Das Seeungeheuer“,(Sternbild Walfisch), flüstert Leeloo. „Das war aber auch gruselig“, flüster ich zurück. „Aber ich habe keine Angst“, Leeloo schüttelt den Kopf, „wenn es kommt, rettet Papa mich. Der ist so stark.“ Sie ballt die Fäuste und spannt die Muskeln an. „Stärker als das Ungeheuer“? frage ich erstaunt nach. „Omi viel stärker!“ Es ist berührend zu erleben, wie fest Leeloo davon überzeugt ist, dass Papa sie vor jeder Gefahr schützen kann und ich bete innerlich, dass sie das Gegenteil niemals erleben muss.
So wie Millionen Kinder dieser Welt, die alltägliche Ohnmacht ihrer Eltern erleben müssen. Verständlich, dass ihre Sicht auf das Leben anders ist.
Die Geschichte der kleinen Flappi kann man übrigens im Planetarium in Erkrath erleben.
Und, wie ich kürzlich gesehen habe, echte kleine Fledermäuse bei uns im Garten.
Mal sehen, was Leeloo für Augen macht, wenn ich ihr erzähle, dass Flappi mit ihrer Familie umgezogen ist und jetzt bei uns im Kirchturm wohnt.
Neben unserem Haus ist eine herrliche große Wiese. Nicht so eine von der englischen Rasen – Art, eher eine für Kinder und Tiere geeignete, mit vielen Wildpflanzen, wie Löwenzahn oder Gänseblümchen.
Direkt neben dem Weg zur Haustür hat sich rund um eine einst stattliche, abgesägte Tanne, sie war Kyrill zum Opfer gefallen, zwischen dem verbliebenen Stamm mit seinen großen Wurzeln ein kleines Biotop von Frühlingsblumen gebildet.
„Sieh mal Oma, das sind Vergissmeinnicht“. Leeloo hat zwischen all den anderen Sorten die kleinen blauen Blüten entdeckt.
„Und wie heißen die hier?“, will sie wissen. Manche erkenne ich sofort, wie Wiesen - Veilchen oder Butterblume, andere, deren Namen ich vergessen habe, versuchen wir in einem Buch über Frühjahrsblüher zu finden.
Gestern wurde die Wiese gemäht, besser kahl geschoren. Auch dieses kleine Wunder von Blüten ist der Schere zum Opfer gefallen. Ich weiß gar nicht, wie ich Leeloo das erklären soll. Sie wird entsetzt sein und weinen. Vielleicht sage ich ihr, dass es mit der Wiese ist wie mit den Wellen. Es wächst immer wieder nach, nur dauert es hier ein bisschen länger.
Leeloo war mit den Eltern am Meer gewesen. „Oma, weißt du was“, sagt Leeloo auf der Fahrt in den Kindergarten, „da kommt immer wieder eine, immer wieder.“ „Was kommt immer wieder“, will ich wissen. „Na die Welle, das hört gar nicht auf.“
„Und“, will ich wissen, „warst du mit den Füßen im Wasser oder war es zu kalt?“ „Ich war mit den Füßen im Sand, aber wenn die Welle gekommen ist, bin ich weg gelaufen.“
Ich kann sie vor mir sehen, wie sie, bis zum letzten Moment wartend, aufjuchzend, versucht den nassen Füßen zu entkommen.
Ich vermisse das Meer so sehr. Von meinem vierten bis in die Mitte der zwanziger habe ich jedes Jahr mindestens drei Wochen an der Ostsee verbracht, oft mehr; und den Wellen gelauscht, wie sie leicht gekräuselt, kaum hörbar, bis brüllend laut ans Ufer trafen. Ich sollte mir eine todo Liste zulegen und ganz oben – Ich will noch mal die Ostsee sehen – darauf schreiben, vielleicht hilft es ja.
Eben kam in den Nachrichten, dass der Pflege bevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, eine Prämie von 5000 Euro für Berufsrückkehrer in den Pflegeberuf und eine Prämie von 3000 Euro für Ausgebildete, die sich dann auch bereit erklären, in der Pflege zu bleiben zahlen will.
Welche himmelschreiende Ungerechtigkeit gegenüber all den Pflegenden, die sich seit Jahrzehnten abrackern.
Ganz abgesehen davon kann ich mir nicht vorstellen, dass jemand nur wegen 5000 Euro in die Pflege zurückkehrt.
Zahlt allen! Beschäftigten in der Pflege 500 Euro monatlich mehr, bei kürzerer Arbeitszeit. Dann klappt das auch mit den Rückkehrern.
Ich hätte da auch einen Vorschlag anzubringen.
Jeder Politiker, der mehr als fünf Jahre im Amt ist, sollte für ein Jahr zurück an die Basis. Von der, liebe Berufspolitiker, habt ihr einfach keine Ahnung mehr und das führt zu unerträglichen und deshalb den sozialen Frieden in diesem Land stark gefährdenden Zuständen. Also auf in die Produktion, aber bitte nicht nur für einen Monat. Das wäre dann in etwa so wie bei denen, die sich einen Monat lang auf Hartz IV Niveau begeben und feststellen, dass sogar Eis für die Kinder drin war. Wie hat mal jemand gesagt:“So viel kann ich gar nicht essen, wie ich da kotzen möchte!“
Vor ein paar Tagen hat sich, mitten in Düsseldorf, auf offener Straße, während der Mittagszeit, also bei vielen Fußgängern auf der Straße, ein Mann vor meiner Tochter aufgebaut, den Hitlergruß gezeigt und laut SS gerufen.
Nun, mein großes Mädchen ist Kummer gewöhnt. Was sie aber wiederholt zutiefst erschüttert hat, ist die Tatsache, dass alle Menschen um sie herum weggeschaut haben, ihr niemand beigestanden hat. Ich meine, das war eine Situation am helllichten Tag. Da musste man den Kopf schon sehr weit drehen, um nichts mit zu bekommen.
Da wo ich wohne, hat man es eher mit türkischem Nationalismus als mit deutschen Rechten zu tun. Auch nicht gerade prickelnd.
Früher, wenn mich die Angst gepackt hat, habe ich gehandelt. Jetzt bleibt mir nur alles aufzuschreiben, was meine Seele berührt. Immerhin, das kann ich noch!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
In der abstrakten Welt der Mathematik lässt sich ein kleinster gemeinsamer Nenner finden. Im alltäglichen Leben ist das häufig nicht möglich, aus purer Intoleranz, aus nicht wollen.
Leeloo hat Geburtstag und wie alle Kinder das gern tun, hat sie mit Hilfe ihres Papas Einladungen gebastelt und im Kindergarten verteilt. Sie ist in ihrer Wahl dem Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners gefolgt und hat alle Kinder eingeladen, mit denen sie im Kindergarten gern spielt.
Religion oder Hautfarbe war für sie kein Auswahlkriterium. Für die Eltern offensichtlich schon.
Vielleicht haben sie aber auch mangels Kenntnissen der deutschen Sprache die Einladung nicht verstanden oder wollten ihr Kind nicht einer doch unbekannten Familie überlassen. Einfache Kontaktaufnahme über den Kindergarten oder die auf der Einladung angegebene Telefonnummer hätte Klarheit gebracht. So, wie es eine junge Mutter mit drei kleinen Kindern getan hat, die ihre vierjährige Tochter nicht allein in unbekannte Hände geben wollte, ihre anderen zwei auch noch kleinen Kinder aber nicht allein lassen konnte.
Sie sind alle zusammen zu Leeloos Geburtstag gekommen. Geht doch!
Hat man ein Haustier, hat man auch Nachbarn. Ob man nun will oder nicht. Haustiere polarisieren und jeder hat eine Meinung zum Thema, die er auch laut kund tut.
Ziva, eine dreifarbige Katze, die sich ihren Platz in meiner Wohnung schwer erkämpft hat, gegen den Willen ihrer eigentlichen Besitzerin und auch gegen meinen, weiß, was sie will. Mit ihren fünf Jahren ist sie eine erwachsene, lebenserfahrene Katze und es ist müßig, sie erziehen zu wollen. Deshalb haben sie und ich ein paar Regeln vereinbart, die unser Zusammenleben möglichst konfliktarm gestaltet, weshalb wir beide versuchen uns daran zu halten.
Regel Nummer 1: Mäuse, egal ob tot oder lebend, besonders nicht lebend!!!, gehören nicht in die Wohnung. Es wurde eine Gesichtskontrolle
eingeführt.
Regel Nummer 2: Nachts gehört das Schlafzimmer ausschließlich mir.
Regel Nummer 3: Ziva darf von der Dämmerung bis in die Abendstunden so oft raus und rein wie sie möchte, nachts muss sie drin bleiben.
Diese Regel ist schwer durchzusetzen, sobald das Frühjahr mit lauen Nächten meine Freigängerin nach draußen lockt. Aber wir wohnen in einem Gebiet, in dem nachts auch Marder, Füchse, streunende Katzen usw. auf Beutefang gehen und dann kommt es schon mal zu bösen Revierkämpfen. Davor möchte ich sie gern bewahren. Aber wie schon gesagt, sie ist erwachsen und nicht immer hält sie sich an die Vereinbarung, was mir auch schon mal eine sehr schlafarme Nacht beschert. Bisher ist es noch immer gut gegangen und ich bemühe mich die Sache gelassener zu betrachten.
Regel Nummer 4: Hauen, kratzen, fauchen und beißen sind verboten. Dafür entscheidet ausschließlich Ziva wann und von wem sie gestreichelt
werden möchte.
Ich finde eine sehr gerechte Regel.
„Oma“, fragt Leeloo, „darf ich Ziva Katzenschokolade geben?“ Sie meint einen flüssigen Katzen Snack, den Ziva besonders liebt. In respektvoller Entfernung zu Ziva stellt sie das Schälchen ab und hockt sich auf den Boden, um genau zu verstehen, wie Ziva die „Schokolade“ aus dem Schälchen bekommt.
„Oma sie leckt das mit der Zunge raus“, stellt Leeloo etwas verwundert fest.
Manchmal vergisst man, dass für Leeloo 99,99% aller Geschehnisse zum ersten Mal stattfinden.
Da kann es schon verwundern, dass eine Katze nicht mit dem Löffel isst.
In Schweden gibt es das erste Weltraumgymnasium. Dort macht man nicht nur das Abitur, dort bereiten sich junge Menschen professionell auf den Weg ins All vor. Leeloo möchte Astronautin werden, erst Sängerin, dann Astronautin, genau in der Reihenfolge. Im ersten Moment belächele ich diese Wünsche und vergleiche sie in Gedanken mit meinen oder denen meiner Tochter, soweit ich mich daran erinnere.
Das verblüffende ist, dass Leeloos Vorstellungen, so unwahrscheinlich sie auch klingen, tatsächlich viel realistischer sind, als es meine waren.
Obwohl, vielleicht irre ich mich da und in 30 Jahren fliegen nur noch Roboter ins All.
Für mich ist die Zukunft mehr denn je ein Buch mit sieben Siegeln. Allein der Gedanke eines Tages nicht mehr einkaufen gehen zu können, so mit – ich schiebe meinen Einkaufswagen durchs Geschäft – weil alles nur noch computergesteuert funktioniert, verursacht mir eine gewisse Übelkeit, ganz zu schweigen von Büchern oder Zeitschriften, die der Digitaliesirung zum Opfer fallen könnten.
Zum Glücklichsein brauch ich beides, den Computer und den Einkaufswagen. So einfach ist das.
Vielleicht sollte ich Leeloo zum Geburtstag oder besser nächstes Weihnachten ein Teleskop schenken; so einen kleinen Refraktor mit dem man Details auf dem Mond beobachten kann. Aber vorher gehe ich mit ihr in eine Sternwarte, damit sie mal sieht, wie der Himmel über uns tatsächlich aussieht.
„Oma, du brauchst ein neues Auto“. Leeloo spricht die bittere Wahrheit mit kindlicher Gelassenheit aus.
Ich nicke also. „Wann kaufst du eins? Mama und Papa haben mir ein Fahrrad gekauft“.
Sie blickt mich bedeutungsvoll an. „Und, frage ich, froh vom Autothema ablenken zu können, kannst du schon ein bisschen fahren?“
„Ganz allein!“
Sie hat tatsächlich innerhalb von fünf Tagen Fahrrad fahren gelernt; ein bisschen wackelt es noch beim auf und absteigen und manchmal ist der Bordstein im Weg, aber sie fährt.
Es erinnert mich an mein erstes Fahrrad. Ich war etwa zwei Jahre älter als Leeloo und meine erste Alleinfahrt endete in einem Lattenzaun. Er war grün.
Das mit dem „wieder geboren“ werden stimmt definitiv. Erst durchlebt man ein zweites Leben mit den Kindern und dann noch eins mit den Enkeln.
Ein Erleben, dass mit nichts anderem vergleichbar ist, und allen, die den Artikel über die Schwierigkeiten des Eltern sein in der letzten Ausgabe der „Zeit“ gelesen haben und sich nun verunsichert fragen, ob sie ein Kind wollen oder nicht… wollt oder wollt nicht, aber wenn ihr wollt, betrachtet es als ein alles noch einmal erleben dürfen und das in einer anderen Zeit unter neuen anderen Umständen.
„Oma“, fragt Leeloo, „weißt du was eine Null ist?“ Es fällt ihr schwer, die Antwort zurück zu halten. „Was denn?“
„Nichts", bricht es aus ihr heraus, „gar nichts.“ Sie steht da, die Schultern hoch gezogen, die Unterarme weit auseinander mit den Handflächen nach oben.
„Gar nichts“. Sie ist so glücklich über diese neue Erkenntnis, dass ich es nicht übers Herz bringe, ihr zu erklären, dass eine Null an eine andere Ziffer an gehangen sehr wohl sehr viel sein kann.
Lieber lachen wir darüber, dass die Ostereier im Garten Mützen aus Schnee tragen.
Und ich bin gerade sehr dankbar, dass sie nicht von mir erklärt haben will, weshalb der „Magiki – Spielzeug – Pinguin“, den der Zauberer heute in ihr Kästchen gezaubert hat, die Farbe wechselt, wenn man ihn in warmes Wasser legt. Keine Ahnung, nur die Hoffnung, dass es nicht gesundheitsgefährdend ist.
Leeloo`s Lieblingssatz lautet: „Oma, ich kann das allein.“ Ein zuweilen beängstigender, nervenaufreibender Satz, vor allem wenn es sich um scharfe Messer oder den stundenlangen Versuch, eine Schleife zu binden, handelt. Ich meine, ich könnte ihr das mit der Schleife zeigen... aber sie kann es ja allein.
Fast bedauere ich ein bisschen, dass sie bestimmt lesen kann, bevor sie in die Schule kommt. Dann wird sie viele Fragen nicht mehr mir, sondern dem Internet stellen. Wie gut, dass es Fragen gibt, die man nur mit dem Herzen beantworten kann.
1. Treffen der Theatermacherinnen in Bonn. Und mein Kind schreibt ein bisschen Geschichte, sie ist dabei.
Das Theater, in dem alles möglich scheint, ist weit, sehr weit vom Selbstverständnis einer Theatermacherin im 21. Jahrhundert entfernt und dieses Treffen überfällig.
Da ich es als mein Hobby betrachte, nachts nicht schlafen zu können, ha,ha, habe ich mir über eins der in Bonn zu diskutierenden Themen Gedanken gemacht – mehr Parität in den Berufsgruppen.
Ich habe mir vorgestellt, was wohl passiert wäre, wenn meine Tochter die Rolle des Erzählers im Stück „Glück im 21. Jahrhundert“ mit einer Frau, einer weißen Frau, einer dicken weißen Frau, einer schwarzen Frau, einer dicken schwarzen Frau besetzt hätte. Wie hätte das durchweg normalgewichtige, weiße, mittelständige Publikum des Premierenabends wohl reagiert?
Wäre so wie es an diesem Abend war, sofort der Funke übergesprungen, oder hätte es, bei völlig gleichem Wortlaut der Rolle, wie in dem Film „In der Hitze der Nacht“ eine Weile gedauert bis zu der Erkenntnis, die der weiße Polizeichef Gillespie dem schwarzen Ermittler Virgil Tibbs zu ruft: „Ist es die Möglichkeit, man, Sie sind ja nicht anders als wir alle.“
Wir tun uns schwer, jemanden, der nicht unseren Vorstellungen in Bezug auf eine Rolle, eine Position im Theater, in anderen Lebensbereichen entspricht, als gleich, besser gleichwertig zu erkennen. Man denke nur, wie lange es gedauert hat, bis Männer als Erzieher in Kitas gearbeitet haben, heute sehr erwünscht und die Normalität. Das hat Mut und Überzeugungskraft gebraucht und tägliche Erfahrung.
So wie es heute den Mut und die Überzeugungskraft von Intendantinnen und Regisseurinnen braucht, bisher männlich dominierte Positionen mit Frauen zu besetzen und, weil es in diesem Leben leider nur zu oft ums Geld geht, dafür auch gleich zu bezahlen.
Ich wünsche jedenfalls allen Teilnehmerinnen der Konferenz den Mut zur Vernetzung und die Kraft sich gegenüber männlicher Dominanz durchzusetzen und dem Theater eine Erneuerung zu bringen, die Menschen erreicht, welche sich bisher vom Theater nicht vertreten gefühlt haben und deshalb fern blieben, solche, die ohne zögern in einer dicken schwarzen Frau erkennen: Hey, die ist ja nicht anders als wir alle.
Wenn Leeloo krank ist, bleibt für mich die Zeit stehen. Ich kann mich auf nichts anderes konzentrieren, als auf die befreienden Worte, dass Besserung in Sicht ist. Das liegt auch ein bisschen daran, dass ich als Oma „entscheidungstechnisch“ außen vor bin. Vor allem aber liegt es wohl daran, dass der Tod so viele Jahre mein ständiger Begleiter war.
Eine Freundin hat mich einmal gefragt, wie ich es aushalte in einem Altenheim zu arbeiten, dort würden doch so viele Menschen sterben. Das stimmt, aber diese Menschen hatten ein Leben.
Ich habe Menschen, halbe Kinder noch, beim Sterben begleitet nur weil es kein Spenderorgan gab oder die Krankheit unheilbar war. Ich pflegte junge Menschen, die den Preis zahlten für den Wahnsinn des Krieges, der nicht ihr Krieg war und der ihr Leben zerstörte, bevor es begann.
" Alles ist gut", sagt der Dolmetscher, der nur Englisch, kein Deutsch spricht und den unser Oberarzt trotzdem hier behält, damit er nicht zurück in den Krieg muss und vielleicht die Chance bekommt, zu studieren. "Alles ist gut, nur der Blumenkohl, kannst du Blumenkohl essen Schwester Martina?" Noch heute treibt diese Frage mir das Lachen ins Gesicht.
Monate später fand man ihn tot in seiner Botschaft, angeblich Selbstmord. Niemals, niemals ist er freiwillig aus diesem Leben gegangen, die Zustimmung Pharmazie studieren zu dürfen, schon in der Tasche. Niemals, niemals werde ich dich vergessen.
Eine SMS, Leeloo geht es wieder besser.
Stücke schreiben ist wie verreisen. Es gibt eine Vorstellung, eine Idee wohin die Reise gehen soll und mit wem. Aber dann treten Figuren auf den Plan, von denen ich anfangs nichts gewusst habe und verändern die Route, oft sogar das angedachte Ziel. Gerade das macht die Sache so einmalig , spannend und unterhaltsam und ich fühle mich frei von all den Zwängen des Alltags, in denen ich selten spontan reagieren darf. Ich bin keineswegs ein Gegner von Regeln. Sie sind sicher notwendige Grundvoraussetzung des Zusammenlebens. Aber manchmal denke ich, wenn Erwachsene sich ab und zu mal eine Auszeit nehmen und einfach nur treiben lassen könnten, wäre dieses Zusammenleben Konflikt ärmer.
Kinder wissen so etwas intuitiv.
Leeloo sitzt vor einem großen Blatt Papier und experimentiert mit Farben aus ihrem Malkasten. Sie mischt die eine mit der anderen, staunt welche neue Farbe entsteht und kleckst munter darauf los.
„Was malst du ?“, will ich wissen. Ihre dunklen Augen blitzen mich vorwurfsvoll an. „Aber Oma, dass weiß ich doch jetzt noch nicht.“ Natürlich, in diesem frühen Stadium der Schaffung eines Bildes kann sie das noch nicht wissen. Wozu auch, das würde ja langweilig und öde sein, immer schon alles im voraus zu wissen.
Später malt sie eine Sonne, deren Strahlen über das ganze Blatt reichen, dazwischen größere Punkte in verschiedenen Farben. „Was sind das für Punkte?“, frage ich. „Die Planeten Oma, weißt du das nicht?“ Ich nicke, die Planeten, natürlich was sonst, die Planeten. In zwei Monaten wird Leeloo vier Jahre alt. Ich meine unter diesen Umständen steht es mir mal wieder zu, fassungslos über die heutige Jugend zu sein.
„Theater der Zeit“ Märzausgabe. Teil der Zeitschrift ein Stück von Lars Werner „Weißer Raum“. Am Beispiel einer rechtsradikalen Familie versucht er das gegenwärtige politische Klima in Deutschland darzustellen. Dass er es im Osten, in der Nähe von Dresden, angesiedelt hat, begründet er, in einem dem Stückabdruck vorangehenden Interview, so:
„In Dresden und dem Umland habe ich es verortet, weil ich dort aufgewachsen bin, weil ich die Orte kenne, an denen es spielt. Außerdem ist es der Ort, an dem Pegida entstanden ist. Das war für mich keine große Überraschung, als sie da plötzlich durch die Straßen liefen. Die waren schon immer da. Man ist quasi neben denen groß geworden.“
Ich bin 30 Jahre vor Herrn Werner geboren und im Dresdner Raum aufgewachsen und ich könnte ihm zurufen: “Damals schon!“ , denn auch damals waren sie immer da, in Schrebergärten, an Stammtischen, privaten Räumen. Durch die fehlende Meinungsfreiheit, konnten sie ihr rechtes Gedankengut nur nicht so offen in die Welt schreien.
Politiker begründen das Anwachsen rechter Ideologie häufig damit, dass die Menschen sich mit ihren Problemen, hoher Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit allein gelassen fühlen. Das ist es nicht. Das befördert nur den schon immer vorhandenen Nährboden.
Durch die, in meinen Augen sehr mutige, weil letztendlich einsame Entscheidung, einer einzelnen Frau, die Grenzen zu öffnen, für Menschen die sich in einer ausweglosen Notsituation befanden, zeigt sich nun der kleinbürgerliche Spießer auch öfter im Westen in seiner ganzen Pracht. Bis dahin hat er das Feld den Ultrarechten der Szene überlassen, jetzt sieht auch er seine Stunde gekommen. Und „ Kenne mer nit, bruche mer nit, fott domet“ worüber man gestern noch herzlich gelacht hat, bleibt einem heute im Hals stecken.
Während nun der kleine Mann sich im Hassen übt, schmelzen die Polkappen und die Mächtigen spielen mit ihren Atomraketen Ping Pong.
"Oma", fragt Leeloo, "sind die Männer böse"? Wir sitzen auf dem Sofa, draußen ist es bitter kalt, vor uns zwei Tassen Kakao auf dem Tisch und im Fernsehen läuft der Märchenfilm "Die goldene Gans". Leeloo hat sich eng an mich gekuschelt. "Ja, Leeloo, die sind böse, aber auch ziemlich dumm". "Der Klaus ist nicht dumm", sagt Leeloo". "Der Schusterjunge Klaus nicht, sieh mal was der für schöne Schuhe machen kann". "Und der geht jetzt gleich ins Schloss und hilft der Prinzessin?", fragt Leeloo weiter, nur um sicher zu sein. "Ja, der geht jetzt mit seiner Gans ins Schloss und allen die an der Gans festkleben, zusammen schaffen sie es Prinz Störenfried und die anderen bösen Männer zu vertreiben". "Und dann,", fragt Leeloo. "Dann heiratet Klaus die Prinzessin und bekommt das halbe Königreich und allen Menschen wird es gut gehen". "Den bösen auch?" "Den bösen auch, aber die sind dann nicht mehr böse und hoffentlich auch nicht mehr so dumm". Angesichts dieser insgesamt positiven Aussichten greift Leeloo nach ihrem Kakao und trinkt die Tasse mit großen Schlucken leer.
Premiere. Dieses Wort war schon immer Teil meines Lebens. Aber seit 14 Jahren ist die Zeit vom Beginn der Proben bis zum Tag der Tage geprägt von Herrn Mamoulians Sinuskurve, die erst gleichmäßig verläuft, dann immer mehr fahrt aufnimmt, bis sie sich am Tag der Premiere nahtlos in das Geschehen auf der Bühne einfügt.
Die Nacht war schlaflos, der Tag der Premiere ist begleitet von Übelkeit und anderen unangenehmen Dingen, vor allem der Frage: Was ziehe ich an? Das Problem der Qual der Wahl habe ich nicht wirklich, mein Kleiderschrank ist überschaubar gefüllt. Es ist immer wieder die Herausforderung, etwas bequemes mit etwas festlichem zu kombinieren und wie fast immer entscheide ich mich für Jeans und Samt. Es ist ja nicht die Oper.
Obwohl ich sehr zeitig los gefahren bin, um noch einen Parkplatz in der Nähe zu finden, ist das Foyer schon ziemlich gefüllt. Mein Kind sieht wie immer toll aus und gibt sich gelassen. Natürlich, jetzt lässt sich nichts mehr ändern, es kommt wie es kommt.
Und wie es kommt. Ich kenne nur wenige Theaterregisseure, die die Klaviatur der Gefühle so zu spielen beherrschen. Das Publikum lacht schallend, erschrickt, ist nachdenklich, traurig, erleichtert und zum Schluss wird alles gut, wird es das wirklich? Man wünscht es den Helden der Geschichte so sehr, weil man sich oder andere in ihnen wieder erkannt hat, aber man weiß auch das der Mensch, wie du und ich, nicht wirklich rational handelt, neue Fehler vorprogrammiert sind.
Das Publikum ist begeistert, klatscht, trampelt minutenlang und ich bin erleichtert und so stolz auf mein glückliches Kind. Auf ein Neues!
Aber bitte nicht so schnell. Omas Herz braucht für ein paar Tage langweiligen stinknormalen Alltag – na ja, wer`s glaubt...
Und noch ein bisschen Werbung: Das Stück „Glück im 21. Jahrhundert“ läuft im TAS in Neuss.
In den letzten Tagen sind zwei junge Menschen einen plötzlichen unerwarteten Tod gestorben.
Ich kannte sie beide nur aus Erzählungen. Aber ich liebe die, die sie kannten und jetzt in Fassungslosigkeit zurück bleiben.
Gern würde ich etwas sehr tröstliches sagen.
Doch selbst wenn ich es könnte, es würde an diesem Wall aus Trauer und Verzweiflung abprallen. In meinem Leben habe ich viele Menschen sterben sehen. Darunter einige, die mir sehr Nahe standen.
Aber nur ein einziges Mal ist jemand von mir weg gegangen, wohlgemerkt nicht in den Tod, dass es mir eine Woche lang nicht möglich war zu sprechen, zu essen, kaum konnte ich etwas trinken. Ich habe geweint, geweint, geweint. danach war ich ein anderer Mensch.
Meine Mutter hat oft gesagt, dass ich hart bin, aber welche Mutter kennt schon ihre Tochter wirklich :)
Mein Herz hatte eine Wandlung vollzogen, die dem reinen Überlebenskampf diente. Mir fehlte ein Ort an den ich hätte gehen und trauern können. So habe ich funktioniert. Ein Mensch sollte das Recht haben, zu trauern und Trost zu finden.
Als Leeloo etwa zwei Jahre alt war, sagte mein sehr gut Bekannter: "Martina, sie ist wie du."
Er meinte meine kleine Leeloo Ich sagte ihm, dass sie ja nun wirklich ihrer Mutter ähnlich sieht. Ja, sagte er, sie hat viel von ihrer Mutter, aber sie hat dein Herz. Seitdem betrachte ich Leeloo nicht mehr mit den Augen oder dem Verstand. Ich sehe sie nur noch mit meinem Herzen und mit jeder Begegnung schwindet ein Teil der Narbe auf dem meinen.
Danke, meine Tochter, dass du dich ohne eine Sekunde zu zögern für Leeloo entschieden hast. Mehr Trost konntest du mir nicht geben.
Vor ein paar Tagen kam ein Bericht über Mossul in den Nachrichten.
Die Stadt ist ein einziger riesiger Trümmerhaufen. Darüber türmt sich Unrat, es schauen Granaten aus den Trümmern und überall Leichen, die vor sich hin verwesen. Der Geruch muss unerträglich sein.
Dann plötzlich Frauen mit ihren Kindern, die über die Trümmer klettern. Die Kinder erbarmungswürdige, ausgemergelte Gestalten, ihre Gesichter zwischen Angst und Apathie. Würde man sie fragen, ob das heute ein besonders schrecklicher Tag ist, sie würden den Kopf schütteln, sie kennen nichts anderes. Für sie ist es wie immer. Wie immer.
"Oma", fragt Leeloo ,die ich gerade mit dem Auto aus dem Kindergarten abhole, "wenn wir gleich bei dir sind, darf ich erst in das Kästchen gucken und mich danach ausziehen?"
"Ja du darfst erst in das Kästchen gucken."
Das Kästchen ist eine kleine Holzkiste, mit viel künstlerischer Freiheit von Leeloo bemalt, in dem sie die Schätze einer Dreijährigen aufbewahrt. Manchmal, zunehmend öfter, eigentlich immer zaubert der Zauberer, ein besonders bedeutungsvolles Mitglied einer Familie von Handpuppen, eine kleine Überraschung in das Kästchen.
"Also ich darf in das Kästchen gucken und mich danach erst ausziehen."
Ich nicke.
"Wie immer Oma ", sagt sie und ich kann fühlen, wie sich in ihrer kleinen Seele eine tiefe Beruhigung darüber ausbreitet, dass es sein wird wie immer.
Und während ich, mehr stopp als go, versuche das Auto unbeschädigt durch den Wahnsinn nachmittäglichen Verkehrs zu bringen, schläft sie in ihrem Kindersitz ein. Wie immer.
Durchlebe gerade mal wieder eine Zeit, in der ich das Gefühl habe, das Leben will mich vernichten. Ist ein Problem gelöst, türmt sich das nächste grinsend auf. Und was ich in der Jugend noch sportlich genommen habe, wird angesichts schwindender physischer und psychischer Kräfte immer unerträglicher.
Um mich auf bessere Gedanken zu bringen, greife ich nach einem Buch, welches mir ein sehr gut Bekannter zu Weihnachten geschenkt hat. Eins von
der Sorte, die ich mir selbst nie kaufen würde und eigentlich mehr aus Höflichkeit zu lesen beginne.
Johannes Mario Simmel „ Das geheime Brot“
Darin finde ich folgenden Text:
„Es ist eine alte Tatsache, daß immer dann etwas Böses geschieht, wenn zu lange Gutes geschehen ist. Auch auf diese Weise reguliert sich der Lauf der Welt. Herr Mamoulian kannte diese regelmäßigste aller Sinuskurven ganz genau. Er wußte, daß es sich nicht lohnte, allzu traurig über ein Unglück zu sein, weil das Glück schon auf dem Fuße folgte.
Und er wußte auch, daß es töricht war, sich über dieses folgende Glück allzusehr zu freuen und etwa sein Herz an eine kurze Glückseligkeit zu hängen, weil auch sie niemals von Dauer sein konnte.
Obwohl Herr Mamoulian aber, in Kenntnis dieser verwickelten Tatsachen, sich sein Leben lang darum bemühte, in einer Mittellage, in einem Schwebezustand zwischen beiden Extremen, zu verharren, gelang ihm das doch niemals, und er war dazu verurteilt, glücklicher als andere
Menschen zu sein, und auch wieder unglücklicher als sie.
Das Leben ließ Herrn Mamoulian für seine Erkenntnisse zahlen, weil es richtige Erkenntnisse waren – so wie das Leben alle zahlen
läßt, die im Begriff stehen, ihm auf die Schliche zu kommen.“
Auf dem Parkplatz meines heißgeliebten und sehr schwer vermissten Sternverlages stand an der Wand ein Slogan mit dem sinngemäßen Inhalt:
Mit einem Buch bist du nicht allein.
Genau, würde meine Enkeltochter, dreieinhalb, sagen, Omi g e n a u